Als jemand, der viel Zeit in Wäldern und an Waldrändern verbringt, sehe ich immer wieder gut gemeinte, aber problematische Versuche, verwaiste Rehkitze privat aufzuziehen. Deshalb möchte ich hier aus Erfahrung und mit fachlichem Hintergrund erklären, wie man typische Fehler vermeidet — und wann man besser die Profis ranlässt. Rehaufzucht ist mehr als nur „Füttern“; sie verlangt Wissen, Vorsicht und oft professionelle Unterstützung.
Wann wirklich eingreifen?
Der wohl häufigste Fehler ist das vorschnelle Eingreifen. Ich bekomme oft Nachrichten zu scheinbar verlassenen Kitzen, die einfach „alleine“ daliegen. Die meisten Rehgeißen verstecken ihre Kitze stundenweise, um Räubern aus dem Weg zu gehen. Ich schaue deshalb immer erst aus sicherer Entfernung über mehrere Stunden hinweg (maximal 24 Stunden bei schlechtem Wetter oder offensichtlicher Verletzung).
Wenn ein Kitz verletzt, unterkühlt oder offensichtlich krank ist, oder wenn die Mutter sichtbar tot ist, dann ist Eingreifen notwendig. Ansonsten gilt: beobachten statt sofort mitnehmen.
Rechtliche und ethische Aspekte
Ein wichtiger Punkt, den viele übersehen: In Deutschland sind wilde Säugetiere rechtlich geschützt. Das bedeutet, dass du nicht einfach eigenmächtig handeln darfst. Ich empfehle immer, zunächst die örtliche Wildtierauffangstation oder das zuständige Veterinäramt zu kontaktieren. Diese Einrichtungen wissen, ob eine Aufzucht durch Privatpersonen überhaupt erlaubt und sinnvoll ist.
Ethik spielt eine große Rolle: Ziel muss die Wiederauswilderung in bestmöglicher Verfassung sein. Eine schlechte Aufzucht kann Wildtiere zu menschenscheuen oder -abhängigen Tieren machen — beides problematisch.
Falsche Ernährung vermeiden
Viele Menschen glauben, Kitze könnten einfach mit Kuhmilch oder Babymilch gefüttert werden. Das ist ein klassischer Fehler. Rehkitz-Milch hat ein anderes Verhältnis von Fett und Proteinen als Kuhmilch. Ich habe gelernt, dass ungeeignete Milch zu Durchfall, Dehydrierung und langfristigen Verdauungsproblemen führt.
Wenn eine Aufzucht notwendig ist, sollten folgende Dinge beachtet werden:
- Nutze wenn möglich einen auf Wild- oder Wiederkäuer abgestimmten Milchersatz – oft bieten Wildtierauffangstationen oder spezialisierte Hersteller passende Mischungen an.
- Alternativ wird manchmal eine angepasste Kälber- oder Ziegenmilch empfohlen, aber nur nach Rücksprache mit einem Tierarzt oder einer Auffangstation und oft mit Zusätzen, um die Zusammensetzung zu korrigieren.
- Keine Kuhmilch pur, keine Hafer- oder Sojadrinks.
- Futtereinführung langsam gestalten: zu schnelle Umstellung führt zu Verdauungsstörungen.
Hygiene und Gesundheitsüberwachung
Ein weiterer häufiger Fehler ist mangelnde Hygiene. Kitze haben ein schwaches Immunsystem. Ich sorge immer dafür, dass Flaschen, Sauger und Schlafplätze sauber und trocken sind. Bei Durchfall, Fieber oder Apathie schnell eine Auffangstation oder Tierärztin kontaktieren — nicht einfach abwarten.
Wichtige Punkte:
- Sterilisiere Flaschen und Sauger regelmäßig.
- Saubere, ruhige Unterbringung ohne intensiven Menschenkontakt.
- Temperaturkontrolle: Kitze brauchen Wärme, aber keine Überhitzung. Eine Wärmelampe mit Thermostat kann helfen.
Fehler beim Sozialverhalten und Gewöhnung an Menschen
Ein besonders kritischer Fehler ist die zu starke Prägung an Menschen. Ich betone deshalb: möglichst wenig direkte Interaktion. Rehe dürfen nicht an den Menschen gewöhnt werden, sonst wird die spätere Auswilderung nahezu unmöglich.
Praktische Maßnahmen, die ich anwende:
- Kontakt minimieren: Füttern möglichst mit Handschuhen und aus Distanz, visuelle Barrieren nutzen.
- Keine Spielzeuge, kein „Vermenschlichen“ – keine Trösten wie bei Hauskatzen oder Hunden.
- Sozialkontakt mit Artgenossen suchen: Ideal ist, Kitze zusammen unterzubringen, damit sie natürliches Verhalten entwickeln.
Verletzungen und medizinische Versorgung
Viele Privatpersonen versuchen, Verletzungen selbst zu behandeln. Das kann lebensgefährlich sein. Ich rate dringend, bei Verletzungen oder Verdacht auf Parasiten, Wunden oder Knochenbrüche eine Tierärztin oder Wildtierauffangstation einzuschalten.
Medikamente, Schmerzmittel oder Antibiotika dürfen nur nach tierärztlicher Anweisung gegeben werden. Falsche Dosierung schadet mehr als sie nützt.
Transport und Unterbringung
Beim Transport machen viele Fehler: ungeeignete Boxen, direkter Kontakt zur Fahrerseite, Temperaturprobleme. Ich packe Kitze in ruhige, gut belüftete Transportboxen mit Handtüchern und Wärmequelle. Während des Transports vermeide ich laute Musik und starke Erschütterungen.
Unterbringung zuhause ist nur eine kurzfristige Notlösung. Dauerhaft sollten Kitze in einer professionellen Auffangstation mit Auswilderungsplänen bleiben. Wenn die Unterbringung zu Hause unvermeidbar ist, arbeite ich eng mit Expertinnen zusammen und dokumentiere Gewicht, Ausscheidungen und Verhalten täglich.
Auswilderung planen — nicht nach Gefühl
Die großartige Absicht, ein Reh wieder freizulassen, endet oft falsch: zu früh oder an ungeeigneten Orten. Ich plane eine Auswilderung nur mit Auffangstation oder Förster und nur, wenn das Tier selbstständig Futter aufnimmt, Fluchtverhalten normal zeigt und keine Menschenbindung vorhanden ist.
Wichtige Kriterien vor Auswilderung:
- Alter und körperliche Fitness des Tieres
- Nahrungsaufnahme und Verdauungsstabilität
- Sozialverhalten und Fluchtinstinkt
- Geeigneter, geschützter Auswilderungsort (kein dichter Siedlungsbereich)
Schneller Spickzettel: Was tun — was vermeiden?
| Situation | Tu das | Vermeide |
|---|---|---|
| Kitz allein im Feld | Beobachten, Mutter suchen, 24h beobachten | Sofort mitnehmen |
| Verletztes Kitz | Fachstelle/Tierärztin kontaktieren, Transport in ruhiger Box | Selbstbehandlung ohne Beratung |
| Aufzucht nötig | Rücksprache mit Auffangstation, geeigneter Milchersatz | Kuhmilch, zu viel Händekontakt |
| Auswilderung | Gemeinsam mit Profis planen | Beliebiger Ort oder zu früh freilassen |
Wenn du unsicher bist: fotografiere das Kitz, notiere Fundort und Zeit und rufe eine lokale Auffangstation oder das Veterinäramt an. In meiner Erfahrung macht das den größten Unterschied — rechtzeitige, fachkundige Hilfe rettet Tieren das Leben und bewahrt sie vor langfristigem Schaden.